Nachrichten

Brahms Requiem 2023 | Werkeinführung von Martin Morgenstern


27. Oktober 2023

Brahms Requiem am 19. November 2023 in der Kreuzkirche Dresden

„Wundervoll in Stimmung und kunstvoller Ausführung“

In Heinrich Schütz‘ „Psalmen Davids“ findet sich eine melismatisch ausgezierte Vertonung des Bibeltextes „Wie lieblich sind deine Wohnungen“ (nach Psalm 84). In seiner „Geistlichen Chormusik“, knapp dreißig Jahre später veröffentlicht, ist zudem die Motette „Selig sind die Toten“ enthalten (nach Off. Joh. 14). Diese Schütz-Vertonungen waren Teil der Musikbibliothek von Johannes Brahms; der junge Chormeister führte diese Werke 1864 mit der Wiener Singakademie auf und setzte sie im folgenden Frühjahr auch selbst in Musik.

Eine deutsche (sprich, vor allem erst einmal: deutschsprachige) Begräbnismesse hatte Brahms bereits nach dem Tod Robert Schumanns im Juli 1856 vorgeschwebt. Knapp zehn Jahre später, nach dem Tod der Mutter im Februar 1865, nahm er die liegengebliebenen Arbeiten wieder auf, und im Dezember 1867 wurden die ersten drei Sätze des neuen Werks in Wien uraufgeführt. Am Karfreitag 1868 kam dann erstmals eine sechssätzige Fassung des Requiems im Bremer Dom zu Gehör. Clara Schumann und Max Bruch waren anwesend. Allerdings erklang das Werk in einer seltsamen Melange, die bei heutigen Hörern wohl ziemliches Erstaunen hervorrufen würde: nach dem dritten Satz wurden neben anderen Stücken Schumanns „Abendlied“, das „Erbarme dich“ aus Bachs Matthäus-Passion und das „Hallelujah“ aus Händels „Messias“ eingeschoben, in späteren Versionen gar eine Arie aus Webers „Freischütz“.

»Du wirst seitdem längst schon in Köln so viel Tröstliches über ›Deine Traurigkeit‹ gehört haben, daß mein Trost sehr unnötig geworden, jedoch fühle ich mich gedrungen, zu sagen, daß ich das Stück wundervoll finde, sowohl in der Stimmung, als der kunstvollen Ausführung.«
Clara Schumann 1868 in einem Brief an Johannes Brahms über den neuen, fünften Satz, „Ihr habt nun Traurigkeit“


Solcherlei Verquickung von liturgischen und nicht-liturgischen Texten verschiedener Tonsetzern ist heute unüblich geworden. Nach wie vor aber wird das „deutsche Requiem“ mit anderen weltlichen oder kirchenmusikalischen Werken gern in Dialog gebracht; sei es mit Rudolf Mauersbergers „Dresdner Requiem“, mit Gustav Mahler, Schostakowitsch oder noch lebenden Zeitgenossen. Es scheint dazu ja auch einzuladen: ist es doch nicht in der strengen Tradition als katholische Sterbemesse in lateinischer Sprache konzipiert, sondern ist eine Sammlung verschiedener Bibelzitate, die Brahms 1861 auf der Rückseite eines Notenblatts zusammengestellt hatte.

Der Grundtenor des Werks ist auf die Vergänglichkeit des Menschen und den Schmerz der Trauernden gerichtet. Mithilfe der Textbausteine entsteht ein ganz eigenes Trost- und Hoffnungsgebäude mit dem Tod als Beginn eines ruhigen, ewigen Schlafes, frei von allem Leiden nach Vollendung des Lebens auf der Erde. Die Tages des Zorns, die das katholische Requiem in sich trägt, können im Zuhörer daher keine Furcht wecken: göttliche Rache hat in diesem Werk keinen Platz.

Eher ist es die versöhnliche Lesart des „Wer nur den lieben Gott lässt walten / Der wird Ihn wunderlich erhalten / In aller Noht und Traurigkeit“, die das Requiem im Hintergrund durchzieht. Die entsprechende Choralmelodie aus dem siebzehnten Jahrhundert liegt ihm denn auch musikalisch zugrunde, worauf Brahms selbst hinwies. Gleich die erste Melodiephrase der Streicher ist daraus entwickelt; auffälliger noch ist die Melodie im zweiten Satz: „Denn alles Fleisch, es ist wie Gras“, singt der Chor dort unisono.

Brahms Requiem | Werkeinführung von Martin Morgenstern

Seit nun fast einhundertfünfzig Jahren deuteln die Biografen und Musikhistoriker an der Tatsache herum, dass von Jesus Christus und seinem Opfertod im gesamten Requiem nie ausdrücklich die Rede ist (was auch den Bremer Dommusikdirektor Karl Reinthaler zuerst irritierte: „Es fehlt aber für das christliche Bewusstsein der Punkt, um den sich alles dreht, nämlich der Erlösungstod des Herrn“), ja, dass überhaupt textlich eher eine metaphysische denn eine konfessionelle, kirchlich-dogmatische Grundstimmung vorherrscht. Über Brahms‘ Gottesfurcht, seinen tiefen Glauben oder seine zutiefst antiklerikale Einstellung, seinen Spott über die ‚Pfaffen‘, obwohl er ja mütterlicherseits aus einer Pastorenfamilie stammte, über seine Bibelfestigkeit wie seine Angewohnheit, stets das Neue Testament bei sich zu tragen, ist viel geschrieben worden. Es wird hoffentlich nicht als provokant verstanden, wenn hier auch einmal ein pragmatisches Argument betont wird: könnte es mithin sein, dass Brahms seinem neuen Werk, dem er jahrelange Arbeit und viele Überarbeitungen angedeihen lassen hatte, ein möglichst breites Publikum nicht nur in den Kirchen, sondern auch in den vielen neuen Konzertsälen der Welt wünschte, dass er nicht nur Kirchenchöre, sondern auch die aufstrebenden Singakademien, akademischen Gesangsvereine und Liedertafeln für das Werk erwärmen wollte, und dass sich diese Idee schon in der Textauswahl bemerkbar machte?

»Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geisterwelt bevor«.
Robert Schumann, 1853


Alle sieben Sätze des Requiems wurden denn auch nicht in einer Kirche, sondern erstmals im Leipziger Gewandhaus im Rahmen eines Abonnementkonzerts im Februar 1869 gegeben. Bis zum Ende des Jahres folgten in rascher Folge Aufführungen an zwanzig Orten in Deutschland. In den nächsten fünf Jahren erklang es in der Schweiz, in London, Wien, Paris, Utrecht und St. Petersburg. Für Johannes Brahms bedeutete dieser Erfolg den endgültigen Durchbruch: Robert Schumanns prophetische Worte waren Wirklichkeit geworden.

Martin Morgenstern

Brahms Requiem, Kreuzkirche Dresden
Brahms Requiem, Kreuzkirche Dresden